So sollte es sich auf der Insel bewahrheiten: Nach dem letzten Besuch meiner Schwester befand ich mich weitere fünf Monaten durchgehend im Zustand von Samadhi, ohne einen einzigen Blick auf die Welt zu richten. Wider Erwarten kreuzte ein Wunder meinen Weg des „Schicksals“, um mich aus der tiefen Versenkung in die Welt zurückzuholen. An einem Nachmittag registrierte ich auf einmal, dass sich irgendetwas physisch auf mich zu bewegte. Das Allsehende Auge öffnete sich erneut und ohne mich umzudrehen, sah ich trotz immer noch geschlossener Augen in aller Deutlichkeit, wie sich ein Tier meiner Rückseite näherte. Es war eine Art Insekt, das meinen Körper kurz erschaudern ließ, weil es mehr als meine Handlänge maß und somit riesig auf mich wirkte. Es glänzte goldgelb im Sonnenlicht. Ohne die Spezies zu kennen, wusste ich, dass es sich bei dem Tier um einen Skorpion handelte. Für eine Flucht war es bereits zu spät. Das Spinnentier kroch an meinem Gesäß vorbei und als es an meinen Füßen ankam, stach es mich überraschend in den Zeh. Ein gellender Schrei entwich meiner Kehle und zugleich explodierte ein Schmerz, der mich in seiner Wucht geradewegs umwarf. Mit noch verbleibender Stimme krächzte ich laut: „Skorpion, Skorpion!“ und verfiel sogleich in ein Delirium.
Im selben Moment passierte das unerwartete Wunder! Nach neun Monaten absoluter Einsamkeit befand sich erstmals ein Mensch in unmittelbarer Nähe. Da im Spanischen sehr ähnlich, verstand der Mexikaner den Ausdruck sofort. So schnell er konnte, eilte er herbei, um mich gleich in seine Arme zu nehmen.
Wenige Minuten später passierte ein zweites Wunder! In diesem Moment tauchte meine Schwester in Begleitung unserer Mutter und ihres Freundes an der Sandmulde auf! Eine eigentlich unmögliche Konstellation, die mich buchstäblich aus der gewohnten Bahn jeglicher Vorstellungskraft warf.
Als ich im Krankenhausbett das Vorgefallene reflektierte, fragte ich mich ernsthaft, wie ich überhaupt in diese missliche Lage geraten war. Akribisch suchte ich nach Fehlern oder Hinweisen, die diesen Zwischenfall erklären könnten. Bislang begegnete ich allem mit reinstem Herzen und hatte die Gesetze beider Welten respektiert. Meines Erachtens hatte ich bis dahin noch nie Energien freigesetzt, die in irgendeiner Weise die Harmonie der inneren oder äußeren Welt stören konnten. Erbärmlich, wie ich da lag, verstand ich die Welt, insbesondere den Himmel, nicht mehr. Verständnislos fragte ich mich, weshalb das „All-Leben“ den Angriff auf meinen Körper überhaupt im „Ewigen Leben“ zulassen sollte. All mein Suchen nach einer Antwort darauf, drehte sich um die Frage, was ich bloß falsch gemacht hatte.
Die Ärzte sprachen derweil von einem nie da gewesenen Wunder. Sie konnten meinen Zustand kaum fassen. Eines war für sie jedoch klar: Ohne den Skorpionstich wäre ich in den nächsten Tagen gestorben. Sie sprachen sogar davon, dass diese ungewollte Begegnung meine Rettung gewesen sei, weil ich ansonsten nie gefunden worden wäre. Ironischerweise stellte das Gift noch das kleinere Übel dar. Meine inneren Organe drohten zu versagen. Das Desaster zeigte sich in Form meines überquellenden Bauchs, der von unzähligen Parasiten übersät war. Selbst meine inneren Organe waren voll davon. Die Verdauungsorgane waren von den Schädlingen dermaßen zerfressen, dass sie nur noch in Fetzen im Bauchraum hingen. Die Ärzte räumten keine Überlebenschance ein, denn in ihren Augen grenzte es bereits an ein Wunder, dass ich nach neun Monaten in der Wildnis und in diesem Zustand überhaupt noch lebte.
Was für eine Diagnose! Ableben kam überhaupt nicht in Frage! Nicht gerade jetzt, wo ich deutlich fühlte, dass ich vor einer neuen Daseinserfahrung meines erweiterten Selbst stand. Sollte ich hierfür sogar meinen Körper ablegen? In gewisser Hinsicht schon, denn meine Körperschaft sollte tatsächlich für eine beträchtliche Weile von mir genommen werden, damit ich mich vollends dem nächsten Stadium überlassen konnte. Somit entpuppte sich der Skorpionstich nicht als Tragödie, sondern als Einleitung, um mich ganz in die Sphäre des Selbst übertreten zu lassen. Trotz der Tragik diente das Unglück somit einem übergeordneten Zweck.
Es ging nie darum, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Der geschwächte Zustand des Körpers schien aus der Sicht des „Großen Ganzen“ gewollt, damit er während meiner Abwesenheit von anderen erhalten wurde. Weil ich in der kommenden Zeit nicht gegenwärtig sein konnte, um mich selbst darum zu kümmern, wurde er meinen Mitmenschen zur Pflege übergeben. Meine Bewusstheit sollte derweil vollständig von der physischen Realität abgekoppelt und im ewigen Nichts dem Selbst überführt werden.
Zu dieser Einsicht gelangte ich in einer schier unendlichen Nicht-Existenz, die unglaubliche eineinhalb Jahre dauerte. Schwach, aber ansprechbar funktionierte der Körper weiterhin. Doch ich war nicht da, um es zu bezeugen. Die Körperschaft lebte aus sich heraus, ohne meine Anwesenheit, und das in einer Genialität, als bräuchte sie zum Leben überhaupt kein „Ich“. Schon komisch: Obwohl der Körper sprach und seinen Bedürfnissen nachkam, bemerkte keiner, dass niemand in ihm zu Hause war. Mein „Ich“ und meine Präsenz blieben für die Welt unerreichbar. Mein ganzes Wesen entschwand in die Sphäre des Selbst, um in diesen Schritt der Vollendung überzugehen.