Als die Aufgabe „betteln zu gehen“ mitten im Raum stand, prallten meine Vorstellungen und die der äußeren Welt frontal aufeinander. Die rückkoppelnde Welle zeigte eine Wirkung, die eine Flut von Ereignissen auslöste, die ich so schnell nicht wieder vergessen würde. Alles begann, als Mutter meine Ablehnung nicht gelten ließ und uns Kinder bereits vor Sonnenaufgang auf die Straße schickte. Dazu bekam ich noch die Anweisung, von meiner Schwester zu lernen und abends nicht ohne Ausbeute zurückzukehren. Danach verriegelte sie die Haustür, um meine vorzeitige Heimkehr zu verhindern.
Erst stand ich bloß mal am ganzen Leib zitternd da, um die Herausforderung zu begreifen. Es war ein bitterkalter Tag, der das gesamte Gebiet in ein silbernes Frostkleid hüllte. Meinen Leib bedeckte nur eine dünne Sommerjacke, die der eisigen Kälte des Januars kaum zu trotzen vermochte. Schwesterherz lief zielstrebig durch den Frühnebel davon und ich musste mich beeilen, hinterher zu kommen. Schon bald näherten wir uns dem erstbesten Haus, an dem die Kleine beherzt an der Haustür klingelte. Eine Frau trat heraus und meine Schwester faltete die Händchen, zog den Hals ein, neigte den Kopf etwas zur Seite und schaute die Dame so herzzerreißend an, dass beinahe jeder Stein auf dem Kiesbett zur Barmherzigkeit gezwungen wurde. Das Ergebnis lag gleich darauf mit ein paar Keksen und Bonbons in ihren Händen. Von diesem Schatz wollte sie natürlich nichts abgeben, ein Verhalten, das sie neuerdings auch mit dem Essen zu Hause an den Tag legte. Doch was sie bei dieser fremden Person bewirkte, war bemerkenswert: Für die Kleine war die äußere Welt Teil ihrer inneren Welt und sie lebte in Symbiose innerhalb dieser Beziehung. Obwohl die Frau die Gaben augenscheinlich nur ungern heraus rückte, gelang es meiner Schwester, eine Übereinstimmung zwischen ihren beiden Vorstellungswelten zu schaffen. Sie schenkte der Frau ein Bild der Bedürftigkeit und schmiegte sich quasi an ihr Mutterherz, eine Geste, die jede Gegenwehr dahin schmelzen ließ.
Beim zweiten Haus wiederholte sie ihren filmreifen Auftritt, allerdings musste sie sich dieses Mal einem Echo aus Ärger und Verdruss entgegenstellen. Aber auch hier erntete sie mit ein wenig Beharrlichkeit ein paar Bonbons und Münzen. Als ich ihr weiter folgen wollte, meinte sie, dass ich sie mit meiner Gegenwart behindere und sie lieber alleine losziehen würde.
Auf mich gestellt kramte ich jeden Krümel Mut zusammen, den ich in mir finden konnte, und steuerte die nächste Eingangstür an. Eine Frau trat heraus, die schon bei meinem Anblick fürchterlich zu wettern begann und mich mit ihren wild fuchtelnden Gesten unmissverständlich zum Verschwinden aufforderte. Wie es aussah, hatte meine Schwester hier bereits alles ausgeschöpft, also begab ich mich zur nächsten Tür. Auch diese Bewohner hatten wohl bereits meine Schwester kennengelernt und zeigten sich nicht gerade erfreut, von einem zweiten „Balg“ behelligt zu werden. Mit wüsten Schimpfarien trieben sie mich davon.
Selbst der letzte Funken Mut hatte mich vollends verlassen, aber noch mehr fürchtete ich meine Mutter, die am Abend ein sichtbares Ergebnis der Bettelei erwarten würde. Wie zugeknöpft stand ich auf der Straße, unfähig, der auferlegten Aufgabe nachzukommen. Was für ein Dilemma! In dieser Zusammenfügung erlebte ich die Welt als etwas völlig Getrenntes, als einen Gegensatz von mir. Diese Unvereinbarkeit ließ aus den Umständen zwei Wellenberge entstehen. Welten trafen aufeinander, die in der Vorstellung nicht gegensätzlicher hätten sein können. Die Wellen des Widerstandes türmten sich auf beiden Seiten dermaßen hoch auf, dass sie beim Eintreffen am Kontaktpunkt völlig eskalierten. Und genau diese Zuspitzung sollte sich an der dritten Haustür ereignen.
Als würde ich zur Schlachtbank geführt, durchquerte ich völlig widerstrebend den nächsten Hausgarten. Am Eingang angelangt, drückte ich mit zitterndem Finger auf den so bedrohlich wirkenden Klingelknopf. Der durchdringende Ton hätte mein Herz vor Schreck fast bis in die Strümpfe rutschen lassen! Wie ausgeliefert hob ich meine Hand zu einer bettelnden Geste, den Blick beschämt zu Boden gerichtet. Die Hausdame explodierte auf der Stelle und ging direkt auf mich los. Mit einem groben Griff packte sie meine Ohrläppchen und zog mich an ihnen in die Höhe. Meine Füße hoben vom Boden ab und sie entfernte mich wie einen lästigen Streuner von ihrem Grundstück. Bei diesem rabiaten Rauswurf fühlte ich, wie meine Ohrläppchen bei jedem ihrer Schritte weiter einrissen und warmes Blut über meine Wangen den Hals entlang tropfte. Endlich am Gehweg angekommen, wurde ich mit einem Stoß verächtlich auf den Asphalt geworfen. Gedemütigt kauerte ich auf dem Boden, fasste nach den geschundenen Ohren und fühlte an beiden Ohrläppchen tiefe Risse.
Sogleich trat eine unglaubliche Stille ein, als würde der Himmel aufhören zu atmen und bloß noch lauschen, was mein Wesen nun tun würde. Eine Weile hielt ich versunken inne und reflektierte die Geschehnisse. Verständnis ging mir auf: Es war weder die Allmacht, die meine Ungehorsamkeit bestrafte, noch die Resonanz meiner Befürchtungen. Sowohl das Vorangegangene als auch die Ablehnung konnten nicht die Auslöser für dieses Zusammenspiel sein. Das war unmöglich, denn es existiert ja nur dieses „Ewige Jetzt“. Alle anderen Überlegungen wären eine Erfahrung auf einer Zeitschiene, die es so in der Wirklichkeit nicht gibt. Ohne die Zeit konnte es aus meiner Sicht weder Ursache noch Wirkung geben. Doch was war es, das meine missliche Lage begünstigt hatte? Mein Blick wandte sich in den Raum des Bewusstseins und ich sah, dass es nur darstellte, was in ihm gegenwärtig war. Es zeigte alle Welten zugleich und somit auch alle Kräfte, die ständig miteinander in Beziehung stehen. Was ich erlebt hatte, war bloß ein Schauspiel aufeinander wirkender Bedingungen gewesen, aber im Geist nicht real. Darauf wollte ich tiefer eingehen und wirklich erfassen, was die Situation aus der Perspektive des umfassenden Verständnisses tatsächlich für mich bedeutete.
Ergeben sank ich an Ort und Stelle in die Stille des Feldes. In jeder Zelle meines Wesens keimte das starke Verlangen auf, im vollsten Vertrauen immerzu den universellen Richtlinien und nicht den Pflichten der äußeren Welt zu folgen. Sogleich tauchte in diesem sanften Nachhall eine Gewissheit auf, wenn ich von Beginn an den inneren Hinweisen gefolgt wäre, hätte ich mir viele Unannehmlichkeiten erspart. Das Gefühl verdeutlichte, dass meine Zerrissenheit mich auf andere Wege führte, so dass ich mich nicht mehr voll und ganz auf das Universelle eingelassen hatte. Mir meiner Fehlentscheidung schmerzhaft bewusst, entschuldigte ich mich sogleich und versprach, es nicht wieder zu tun. Wieder herrschte unendliches Schweigen und mein gezähmtes „Ich“ versank gefügig in der „All-Einen-Gegenwart“.