Die Schmerzen waren ausgeschaltet und ich konnte tief in mein wahres Wesen einkehren. In der einen Liebe zu allem angekommen, fühlte ich mich wie bei meinen anfänglichen Ausstiegen aus der Körperschaft mit allen Dimensionen und dem Leben darin sehr innig vereint. Daher sah ich die Außenwelt und all ihre Wesenheiten lange als einzigen Verbund, der aus dem „Einen Lebefeld“ auftauchte. Nie zog ich in Erwägung, dass jede Form spezifische Eigenheiten aufweisen könnte, die es ihr ermöglichten, ein eigenständiges Leben im Einheitsfeld zu führen. Ihre Besonderheit entdeckte ich erst durch eine wunderliche Begegnung im Grünen, die in mir ein neues Verständnis für die Pflanzenwelt einläuten sollte. Mutter tauchte eines Nachmittags völlig unerwartet auf, um mich sogleich auf einen Spaziergang mitzunehmen. Das gab es bis dahin noch nie und entsprechend schrillten meine inneren Alarmglocken. Schweigend wanderten wir durch ein riesiges Löwenzahnfeld, auf dem die Bienen der nahen Imkerei fleißig Pollen sammelten. Unerwartet kniete sich Mutter hin, erfasste meine Hand und sprach mich an: „Ich kann nicht mehr für dich sorgen und die Bettelei gelingt dir offenbar auch nicht so gut. Deswegen möchte ich Dir jetzt etwas zeigen.“ Sie riss ein Löwenzahnblatt ab und erklärte, dass die Pflanze samt Stängel und Blüte essbar sei. Punktum drehte sie sich nach der kleinen Einweisung um und damit war auch der unerwartete Spaziergang beendet.
Auf dem Feld zurückgelassen, bestaunte ich im schweigenden Raum die Schönheit der unzähligen Blüten, die in ihrer gelben Pracht zur Sonne lugten. „Na gut, mal probieren.“, dachte ich. Wählerisch suchte ich mir eines der zartesten Blätter aus. Als ich das Blattgrün sanft um meinen Finger wickelte, um es gleich abzureißen, erfuhr ich eine Art himmlisches Berührungserlebnis. In Sekunden registrierte ich, dass diese Blume, ja alle Pflanzen, selbst die darin wohnenden Insekten, lebendige Geschöpfe mit Persönlichkeit sind. Zugleich wurde mir bewusst, dass die für mich bis dahin belanglose Natur eine Gemeinschaft aus Lebewesen bildete, die allesamt genau wie ich erleben und empfinden konnten. Da dachte ich mir: „Wie kann ich dieser Blume überhaupt ein Blatt abrupfen? Das wäre, als würde ich mir selbst einen Arm ausreißen! Die Pflanze würde dadurch Schmerzen empfinden und meinetwegen vielleicht sogar sterben, wenn ich es übertreibe! Wie kann ich einem Geschöpf solches Leid zufügen, um mich dadurch besser zu fühlen? Wieso sollte ich von anderen Lebensformen Energie stehlen, um meine eigene damit zu bereichern? Und das zu einem so hohen Preis?“ Nach dieser Überlegung war ich außerstande, dem Löwenzahn ein „Ärmchen“ abzuknicken. Lieber wollte ich gar nichts mehr zu mir nehmen, als einem Lebewesen damit Schaden zuzufügen. So stand ich unverrichteter Dinge wieder auf und lief vorsichtig aus dem gelben Blütenmeer, um das blühende Leben um mich herum dadurch möglichst nicht zu stören.
Wieder auf dem Gehweg angekommen, blickte ich unvermittelt zum Himmel hoch. Obwohl ich zuvor nie betete, sprach ich in dem Moment zum ersten Mal mit innerer Bestimmtheit zum allumfassenden Leben. Mutters Wunsch könne ich nicht nachkommen, erklärte ich. Daher möge sich der „Alles-Leben-spendende-Geist“ meiner annehmen und für mein Wohl sorgen. Mit vollem Vertrauen trat ich den Heimweg an, erfreut darüber, dass ich mir von nun keine Gedanken mehr zur Ernährung machen musste. Eine Bestätigung blieb aus. Doch das spielte keine Rolle. Lieber wollte ich mein Leben hingeben, als andere Lebewesen damit zu verletzen.